„Notruf, Feuerwehr, Rettungsdienst, Grüß Gott“, sagt Florian Berthold ruhig, nachdem ein rotes Licht aufgeleuchtet, er sein Headset aufgesetzt und den Anruf angenommen hat. Am anderen Ende der Leitung ist eine aufgeregte Frau, die wegen ihrer zusammengebrochenen Mutter die 112 gewählt hat. Er nimmt die Adresse auf, fragt nach dem Stockwerk und informiert die Frau: „Notarzt wird alarmiert, wir verlieren keine Zeit.“
Dann gibt er der Tochter Anweisungen: „Jetzt tun Sie genau das, was ich Ihnen sage: Drehen Sie Ihre Mutter auf den Rücken und kneifen Sie sie in die Wange, ob sie noch reagiert.“ Sie reagiert. „Welche Gesichtsfarbe hat sie?“, fragt der Disponent weiter. „Ganz kasig.“ – „Wie geht’s mit der Atmung? Hebt sich der Brustkorb?“ – „Ja, ich habe die Hand drauf“, sagt die Anruferin. „Wichtig ist, dass sie atmet. Wenn Ihre Mutter das Bewusstsein ganz verliert, rufen Sie noch einmal die 112 an, dann helfen wir Ihnen weiter.“
Florian Berthold ist seit 2013 Disponent in der Integrierten Leitstelle Passau, kurz ILS. Dort nehmen er und seine Kollegen täglich zwischen 700 und 900 Anrufe aus den Landkreisen Rottal-Inn, Freyung-Grafenau, Passau und aus der Stadt Passau entgegen. Innerhalb von etwa zwei Minuten entscheidet der Disponent, wie schwerwiegend der Notfall ist und welche Rettungskräfte gebraucht werden. „Die Schwierigkeit dabei ist, dass der Disponent selbst nichts sieht, aber natürlich benutzen wir die Augen und Ohren des Anrufers draußen“, erklärt Sebastian Fehrenbach, Leiter der ILS Passau.
Nach Eingabe der wichtigsten Daten wird ein Schlagwort vergeben. Drückt Berthold auf den Button „Autosplit“, „kriegt es der entsprechende Mitarbeiter auf seinem Bildschirm angezeigt und schickt schon einen Rettungswagen los“, erklärt er. Ein Kollege in der Einsatzleitstelle koordiniert die Notfallrettung, also Rettungswagen, Notarzt, Hubschrauber; ein anderer die Feuerwehren. „Und ich kann noch mit dem Anrufer weitertelefonieren.“
Dann gibt der Disponent Erste-Hilfe-Maßnahmen durch, etwa 200 Mal im Jahr handelt es sich dabei um eine Reanimation. „Der Disponent leitet den Anrufer an, und zwar bis zum Eintreffen des Notarztes“, erklärt Fehrenbach. „Und in den zehn Minuten ist er wie live dabei, muss den Anrufer emotional abholen, hört Geräusche, Schreie im Hintergrund“, weiß der ILS-Leiter. „Das ist sehr belastend.“ Deshalb muss ein Disponent stressresistent sein. „Es gibt persönliche Skills, die man mitbringen sollte. Man muss gerne kommunizieren, logisch denken können und seelisch stabil sein.“ Auch Erfahrung im Rettungsdienst und im besten Fall eine feuerwehrtechnische Ausbildung sind nötig. Weiteres Wissen sammeln angehende Disponenten während ihrer zweijährigen Ausbildung.
Es klingelt wieder leise, die rote Lampe leuchtet. Florian Berthold hebt ab. Von einer Arztpraxis muss eine Frau ins Krankenhaus gefahren werden, erklärt die medizinische Fachangestellte. Sie hat eine Fußwurzelfraktur. „Da schicken wir gleich einen Rettungswagen hin, weil das mit starken Schmerzen verbunden ist“, so Berthold nach dem Auflegen.
Die Passauer Leitstelle ist eine von 26 in Bayern. „Unser Arbeitsspektrum ist extrem vielfältig, wir haben die Grenze mit der Autobahn, Unwetter wie das Simbacher und Passauer Hochwasser, Wasserrettungseinsätze, Bergrettung im Bereich des Dreisessel, den Bahnhof, wo auch immer mal wieder Gefahrgut austritt“, zählt Sebastian Fehrenbach auf. Tagsüber sitzen sechs, nachts drei Personen im Raum und nehmen Anrufe und Meldeeingänge entgegen. „Es gibt aber auch Zeiten, wie jetzt Fasching oder der Politische Aschermittwoch, da planen wir mehr Personal vor“, sagt der ILS-Leiter.
Zudem gibt es einen Bereitschaftsdienst, „der innerhalb weniger Minuten im Haus ist“. Dieser wird bei Großlagen wie einem Gefahrgutaustritt am Bahnhof oder Unfällen wie dem tödlichen Busunglück am 29. Dezember in der Passauer Bahnhofstraße hinzugezogen. „Da geht es Schlag auf Schlag, das Telefon läutet im Minutentakt und die anderen Einsätze muss man auch noch abdecken“, sagt Florian Berthold. Er saß am 29. Dezember nicht in der Leitstelle, weiß aber, wie fordernd solche Tage sind: „Das sind anstrengende Einsätze, auch wenn man nicht vor Ort ist, aber man bekommt viele Eindrücke mit.“ Sebastian Fehrenbach schätzt den täglichen Einsatz: „Ich bewundere immer meine Mitarbeiter, die müssen viel entscheiden, sich viel anhören und der Ton ist nicht immer freundlich.“
„Servus, ich melde mich ab“, kommt ein Disponent an Bertholds Tisch vorbei und verabschiedet sich aus der Schicht. Doch das Telefon lässt kein langes Gespräch zu, es klingelt wieder. „Notruf, Feuerwehr, Rettungsdienst, Grüß Gott.“ Ein Mann ruft an; seine Mutter hat starke Bauchschmerzen. „Wo hat sie die Schmerzen genau? Oberbauch Richtung Herz oder Unterbauch?“ – „Das kann ich nicht sagen.“ – „Aber sie trübt immer wieder ein?“ – „Ja genau.“– „Ich schicke Ihnen Hilfe, da ist ein Notarzt auch mit dabei. Sollte sie das Bewusstsein ganz verlieren, rufen Sie noch mal an.“ – „Meine Mutter ist privat versichert, falls das wichtig ist“, weist der Anrufer Florian Berthold noch hin. „Nein, das sagen Sie dem Notarzt dann.“ In der ILS spielt die Krankenversicherung, der Titel oder Beruf keine Rolle: „Man priorisiert den Menschen und seine Erkrankung, nicht wer er ist – und wenn es der Papst ist“, sagt Fehrenbach. Der Disponent Florian Berthold vergibt das Schlagwort „akutes Abdomen“, ein Rettungswagen mit Notarzt macht sich auf den Weg.
Damit die Zusammenarbeit mit Rettungs- und Krankenwagen, Notärzten und Feuerwehren einwandfrei funktioniert, braucht es auch Rädchen im Hintergrund. So pflegen zwei Mitarbeiter die Stammdaten wie Straßennamen und Hausnummern. Um die Technik wie Funkgeräte kümmert sich Helmut Knapp. Er schaut, dass alle Funkgeräte der 380 Feuerwehren im ILS-Bereich funktionieren und die Software auf dem neusten Stand ist. Bald rüstet er alle Geräte auf den neuen Digitalfunk-Standard Tetra um.
Technische Veränderungen werden die Leitstelle auch in den kommenden Jahren begleiten, schätzt Sebastian Fehrenbach. Schon heute erreichen die Leitstelle per eCall –seit 2018 Pflicht in Neuwagen – oder automatischer Sturzerkennung an der Smartwatch tausende Meldeeingänge. „Das ist vom Grundgedanken nicht schlecht“, sagt er. „Nur löst es auch beim Achterbahnfahren auf der Dult aus, weil das Gerät den Unterschied nicht erkennt.“ Daher sind etwa 80 Prozent Fehlermeldungen – „das bindet Kapazitäten“, sagt der ILS-Leiter.
Auch durch die alternde Gesellschaft steigt die Zahl der Rettungseinsätze. „Was mich nachdenklich macht, ist die Isolation. Es gibt Menschen, die haben eine schwere Grippe, können aber nicht allein bleiben und haben keine Verwandten. Da führt der Weg ins Krankenhaus“, gibt Fehrenbach zu bedenken. Immer wieder rufen auch Menschen die 112, die nicht mehr weiterwissen – „das kann nachts auch die 80-Jährige sein, deren Wasserhahn tropft“, erzählt er aus Erfahrung. Auch ihr wird weitergeholfen, sofern Kapazitäten da sind.
Immer wieder erreichen Florian Berthold und seine Kollegen auch Anrufe, bei denen Humor gefragt ist. „Um halb zwei nachts hat eine Frau angerufen und schreit aufgeregt ins Telefon, wir sollen einen Notarzt schicken, weil sie einen bewusstlosen Patienten hat. Dann kommt raus, es ist ihr Wellensittich“, erinnert sich der Disponent. Berthold fragte die Anruferin, ob ihr bewusst sei, dass sie beim Notruf für Feuerwehr und Rettungsdienst anrufe, was sie bejahte. In der Tierklinik erreiche sie aber niemanden, „sogar Mund-zu-Mund-Beatmung hat sie anscheinend probiert“, erzählt Florian Berthold und lacht. Auch in solchen Situationen ernst zu bleiben, hat er in den letzten Jahren gelernt: „Dich schockiert nichts mehr, weil du schon so viele Dinge mitgemacht hast.“
PNP 10.02.2024 - Jasmin Eiglmeier
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